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Invalidität als Massenphänomen

Als zu Beginn des ersten Weltkrieges die Verlustzahlen schlagartig in die Höhe schossen, gerieten die Feldhospitäler schnell an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. (C) Wikimedia Commons

Der „Große Krieg“ stellte alles in den Schatten, was die Welt bis dahin je an kriegerischen Auseinandersetzungen erlebt hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte standen sich millionenstarke Volksheere gegenüber, ausgerüstet mit den mörderischsten Waffen, die die Menschheit je entwickelt hatte. Schwere Artillerie, Maschinengewehre und Giftgas zählten zu den alltäglichen Schrecken der Front und ließen auf allen Seiten die Todeszahlen in die Höhe schnellen.1 Doch waren Verletzungen, die diese Waffen verursachten, nicht unbedingt tödlich. Fast genauso schnell wie die Entwicklung immer effektiverer Waffensysteme, machte auch die Medizin Fortschritte in der Erarbeitung neuer Behandlungsmethoden und Lebensrettungsmaßnahmen. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 waren noch 90% der Soldaten mit „Schussbrüchen“ verstorben, selbst den vom Schlachtfeld geretteten wurde noch oftmals die mangelnde Hygiene in den Spitälern zum Verhängnis. Das bis 1914 hinzugewonnene Wissen der Mediziner über Betäubung und Bakteriologie sowie die Entdeckung des Verfahrens der Bluttransfusion sorgte dafür, dass Soldaten auch scheinbar unmöglich zu überstehende Verwundungen überlebten, wenngleich die Wahrscheinlichkeit, an einer Verwundung zu sterben, im Laufe des Weltkriegs aufgrund der schieren Masse der zu Versorgenden dramatisch anstieg.2

Da der Bedarf an Prothesen bis zum Ende des Krieges kaum zu decken war, fiel der "Ersatz" für verlorene Körperteile, wie im Falle dieses Soldaten, oftmals eher notdürftig und weitgehend nutzlos aus. (C) HGM/MHI

Doch all das Leiden sollte schließlich immerhin aus medizinischer Sicht enorme Früchte hervorbringen: Die Ärzte vermochten das Kriegsszenario als großes Experimentierfeld für sich zu nutzen, vor allem erhoffte man sich eine Erweiterung der bisherigen hygienischen und bakteriologischen Erkenntnisse.3 Doch auch der Bereich der Prothetik machte während des Krieges gewaltige Fortschritte: Angefangen hatte alles mit einem einfachen metallischen Konstrukt, welches an dem Torso des Patienten befestigt wurde und (im Falle des Armes) über verschiedene Werkzeugaufsätze verfügte. Jedoch taugte diese Konstruktion allenfalls für einfachste Arbeiten. Erst der sog. „Sauerbruch-Arm“, seit 1915 entwickelt vom gleichnamigen deutschen Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, konnte erstmalig die Funktion einer verlorenen Gliedmaße ersetzen.4 Der sprunghaft ansteigende Bedarf an Prothesen führte zu einer Intensivierung der Forschungsbemühungen und konnte bereits 1919, unmittelbar nach Kriegsende, durch industriell gefertigte Massenware gedeckt werden.5 Das Ausmaß der Verwundetenproblematik zeigt sich in den Statistiken, die exemplarisch anhand der deutschen Zahlen dargestellt werden sollen: 1,3 Millionen deutsche Soldaten wurden an den Gliedmaßen verletzt, hinzu kommen 300.000 Männer mit Kopfverletzungen, des Weiteren müssen auch noch Blinde und Taube miteinbezogen werden. Insgesamt waren in Deutschland bei Kriegsende 2,7 Millionen Soldaten als dauerhaft Invalide ausgefallen.6

Die Anfänge der Prothetik brachten einfache Schraubkonstruktionen hervor, die nur eingeschränkt in der Lage waren, die Funktion einer verlorenen Gliedmaße zu ersetzen. (C) HGM/MHI

Doch soll in dieser Betrachtung der Blick auch auf einen Bereich der Verwundung gerichtet werden, welcher die Mediziner während des Krieges vermutlich weit mehr überforderte als die grausamen körperlichen Wunden, welche Granaten und Patronen verursachten: Die seelischen Schäden, die der Erste Weltkrieg bei unzähligen Soldaten aller Kriegsparteien anrichtete. Das ohrenbetäubende Donnern der schweren Artillerie, das beklemmende Gefühl der beengten Unterstände, die Spannung vor dem nächsten Angriff, die unmittelbare Gewalterfahrung im Grabenkampf: All das stellte eine psychische Dauerbelastung für die Soldaten dar, welche auch tatsächliche körperliche Folgen wie u. a. Lähmungserscheinungen, den Verlust der Stimme oder Zitteranfälle zur Folge haben konnte. Gerade letzteres Symptom ging in die medizinische Fachliteratur als „Shell Shock“ ein, im deutschsprachigen Raum wurden die davon betroffenen „Kriegsneurotiker“ oder auch „Kriegszitterer“ genannt. Insgesamt sollen laut Heeressanitätsbericht über 600.000 deutsche Soldaten von derartigen seelischen Schäden betroffen gewesen sein, für den direkten Kriegsgegner Frankreich dürfen ähnlich hohe Zahlen angenommen werden.7

Australische Truppen in einem Unterstand nahe Ypern, 1917. Der starre Blick des Soldaten links unten im Bild ist ein klassisches Symptom des "Shell Shock". (C) Wikimedia Commons

Da auf allen Seiten das medizinische Personal des Militärs keinerlei psychiatrische oder psychologische Ausbildung erfahren hatte, war man mit der Fülle an scheinbar unerklärlich auftretenden Symptomen heillos überfordert. Die Diagnose reichte von einer schockartigen Reaktion als Manifestation des Selbsterhaltungstriebes bis hin zur Verunglimpfung des Soldaten als Simulant, der sich in die Krankheit geflüchtet habe, um seiner militärischen Pflicht zu entgehen. Die Symptome wurden vorschnell als Anfälle von Heimweh, Willensschwäche oder Feigheit gedeutet.8 Die Mittel welche die Ärzte zur Heilung anwandten, erwirkten keinesfalls Verbesserungen im Zustand des Patienten, sondern erscheinen im Nachhinein eher als grausame Bestrafungsmethoden und würden aus heutiger Sicht wohl eher als Folter- statt als Behandlungsmethoden durchgehen: Der ärztlichen Phantasie entsprangen Therapieansätze, in welchen das Verabreichen elektrischer Stromstöße, wochenlange Isolationshaft, die Provokation von Erstickungstodesangst durch das Einführen von Kehlkopfsonden, Scheinoperationen unter Äthernarkose und vieles mehr eine Rolle spielte. Dies diente einzig und allein dem Zweck, potentielle Simulanten abzuschrecken und den Einsatz an der Front attraktiver als eine medizinische Behandlung zu machen.9

Zur Behandlung von psycho-neurotischen Fällen wurde u. a. auf eine Stimulation der Nerven durch Stromstöße gesetzt. (C) Wikimedia Commons

Die gewaltige Menge an Invaliden und Neurotikern zu Kriegsende ließ sich nicht in Narrentürmen oder medizinischen Anstalten wegsperren, sondern musste wieder den Weg zurück in die Gesellschaft finden. Bereits während des Krieges hatte sich herauskristallisiert, dass in den Lazaretten eine eigene soziale Gruppe heranwuchs, welche man nach Beendigung des Krieges in die neue Gesellschaft würde integrieren müssen. Als es offensichtlich wurde, dass man die wachsende Zahl der Kriegsversehrten nicht vor der heimischen Zivilbevölkerung würde verheimlichen können, wurden diese besonders in den Reihen der Mittelmächte argwöhnisch beobachtet. Man befürchtete aufrührerische Elemente unter den Kriegsgeschädigten und sah in ihrer immer stärkeren alltäglichen Präsenz eine Gefahr für die Moral der Bevölkerung. Hinzu kam die sich zunehmend zuspitzende soziale Gemengelage. Im Laufe des Krieges verschärften sich die Spannungen zwischen den staatlichen Institutionen und den Kriegsinvaliden, sobald klar wurde, dass die bereitgestellten staatlichen Mittel für eine adäquate Versorgung der betroffenen Menschen nicht ausreichen konnten.10 Zum anderen waren viele Betroffene vor dem Krieg Arbeiter gewesen und waren daher mit dem gewerkschaftlichen Kampf gegen ihre Arbeitgeber vertraut. Somit war mit den Kriegsinvaliden eine selbstbewusste Fraktion entstanden, welche auch nach dem Krieg vor allem in Deutschland und Österreich ein enormes gesellschaftliches Konfliktpotential bildete.

Kriegsversehrte im "Wiedereingliederungs-Prozess". Alle Kriegsparteien versuchten, ihre Invaliden möglichst rasch wieder in den Arbeitsprozess einzubinden, damit diese sich selbst versorgen konnten und dem Staat nicht zur Last fielen. (C) HGM/MHI

Die Invaliden organisierten sich in eigenen Vereinen mit dem Ziel, ihre finanziellen Interessen ordentlich vertreten zu können. Dabei fühlten sich die meisten Invaliden ihrem jeweiligen Verein sehr verbunden und wiesen einen hohen Mobilisierungsgrad auf, was vor allem in der Weimarer Republik für Konflikte sorgte, da der Staat schlicht nicht die Mittel besaß, 2,7 Millionen Invaliden angemessen zu versorgen. Somit wurde zunehmend Jagd auf „Rentenbetrüger“ gemacht, die sich angeblich die staatlichen Gelder unter der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu sichern versuchten. Es kam hier die gleiche Logik wie bei der Behandlung der Neurotiker während des Krieges zum Tragen: Wer sich in der Not an den Staat wandte, musste lediglich seinen eigenen Vorteil zu Lasten aller Anderen im Sinn haben, so der Vorwurf. Dieses Vorgehen von staatlicher Seite sollte besonders in der Weimarer Republik den sozialpolitischen Diskurs nachhaltig vergiften. Der Invalide wurde zunehmend als finanzieller und nicht zuletzt auch als emotionaler Ballast empfunden. Denn nach Kriegsende taugte der Invalide in den Staaten der ehemaligen Mittelmächte nicht mehr als Heldenfigur, im Gegenteil: Während in den Staaten der Entente der Kriegsversehrte als Sinnbild der Tapferkeit und Opferbereitschaft für den Sieg herhalten konnte, stand er in Deutschland und Österreich zumeist symbolisch für die Kriegsniederlage und die mit ihr einhergehende Schande. Die Invaliden wurden aufgrund ihrer enormen gemeinschaftlichen Organisationsfähigkeit als politische Störenfriede und durch ihre physische Präsenz in allen Bereichen der Gesellschaft als unangenehme Erinnerung an das Scheitern deutscher Weltmachtträume bewertet.

Da auf allen Seiten die staatlichen Finanzreserven nicht annähernd für eine adäquate Versorgung der Kriegsgeschädigten ausreichten, wurden vermehrt Spendenaufrufe an die Bevölkerung gerichtet. (C) HGM/MHI

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass keiner der Staaten, gleich ob auf der Gewinner- oder Verliererseite, gesellschaftlich wie auch finanziell auf die Massen der Invaliden eingestellt war, welche nach 1918 in ihre jeweilige Heimat zurückkehrten. Der „Große Krieg“ hatte der Medizin einen sprunghaften Fortschritt beschert, wenngleich dieser oftmals im Zuge eines grausamen Lernprozesses auf dem Rücken der leidgeprüften Patienten stattfinden musste. Der Kriegsversehrte stand unmittelbar nach 1918 entweder für die Schande der Niederlage oder das Heldentum des Siegers, doch steht er heute in der Rückschau wie ein Fanal für die Gräuel des industrialisierten Krieges, in dem der Mensch fortan das schwächste Glied bildet.

1 Anm.: Die militärischen Verluste belaufen sich schätzungsweise auf 9,7 Mio. tote Soldaten, wobei hiervon ca. 5,7 Mio. für die Entente und ca. 4 Mio. für die Mittelmächte gekämpft hatten. Vgl.: REPERES – Modul 1 – Notiz– Bilanz in Ziffern des Ersten Weltkrieges – DE, S.4f.

2 Vgl.: Wolfgang U. Eckart, „Medizin und Krieg: Deutschland 1914 – 1924“, (Paderborn 2014), S. 13.

3 Ebd.: S. 64.

4 Anm.: Freilich war jene Sauerbruch-Konstruktion nur für wenige Bürger leistbar, doch stellte sie einen Meilenstein auf dem Weg zu funktionellen Prothesen dar. Vgl: Historisches Museum Saar, „Sauerbruch-Arm“, online unter https://ww1.habsburger.net/de/medien/sauerbruch-arm-nachbau-der-unter-und-der-oberarmprothese-nach-dr-ferdinand-sauerbruch (26. April 2022)

5 Anm.: Das Potential von massentauglichen Prothesen wurde von Unternehmern wie Otto Bock (Berlin) aufgegriffen, welche durch ihre Arbeit halfen, die Verwundeten auch optisch wieder näher an die Gemeinschaft heranzuführen.

6 Vgl.: Sabine Kienitz, „Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914 – 1923“, (Paderborn 2008), S. 11.

7 Vgl.: Wolfgang U. Eckart, „Medizin und Krieg“, S. 142.

8 Vgl.: Jonas Nesselhauf, Der  ewige Alptraum:  zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur  des 20. und 21. Jahrhunderts, (Paderborn 2018), S. 43.

9 Vgl.: Günter H. Seidler, „Einleitung: Geschichte der Psychotraumatologie“, (Berlin 2009), S. 7f.

10 Anm.: Die Auszahlung der Invalidenrente hing in Österreich von folgenden Faktoren ab: 1. vom Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Geschädigten (§ 9), 2. vom Wohnort des Geschädigten vor seiner Verwundung (§ 12), 3. von der Vorbildungsstufe des Geschädigten (§ 12), Tatsächlich traten aber niemals alle vier Faktoren zugleich in Wirksamkeit, die Aushandlung der auszuzahlenden Summe stellte ein immerwährendes Tauziehen zwischen Geschädigten und Bürokraten dar. Vgl.: Harald Wendelin, Die Wunden des Staates , (Böhlau 2015), S. 230f.

Ferdinand Elsner

Ferdinand Elsner, BA
Ich bin als Verwaltungspraktikant in der Forschungsabteilung des HGM eingesetzt und absolviere aktuell das Masterstudium der Geschichte. Des Weiteren bin ich im Begriff, meine Abschlussarbeit fertigzustellen, welche sich thematisch um das Wirken der Résistance im direkt besetzten Nordteil Frankreichs dreht. Über das Themenfeld des 2. Weltkrieges hinaus zählt vor allem die Untersuchung strategischer Konzepte des Ersten Weltkriegs zu meinen Forschungsschwerpunkten, sowie die Minderheitenpolitik der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns in der Zwischenkriegszeit.

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